Der aktuelle Coaching-Fall: Zuerst verstehen, um dann verstanden zu werden
Druck erzeugt Gegendruck. Wenn es uns gelingt, Widerstände zu verstehen, wirkt sich das positiv auf den Gesprächsverlauf aus.

Reto ist Teamleiter eines Inhouse Helpdesks. Aktuell ist er in seiner Führungsaufgabe gefordert und ist an dem Punkt angelangt, an dem er einen Mitarbeitenden am liebsten entlassen würde. Er sucht Hilfe bei einer Coachin: «Seit einigen Monaten haben wir die Regelung „Softwareprobleme, wenn immer möglich, nicht mehr beim Mitarbeiter vor Ort, sondern via Remote Zugriff zu lösen”. Ein Mitarbeiter im Team hält sich nicht an diese Regelung, obwohl ich ihn mehrfach darauf hingewiesen habe. Mir reisst bald der Geduldsfaden.» «Was wünschen sie sich von dieser Person?» will die Coachin wissen. «Ich will, dass er macht, was ich sage!» Die Coachin weiter: «Das hört sich nach einer Forderung an.» Reto meint: «Stimmt – das ist es auch! Doch der Mitarbeiter hält sich trotzdem nicht an die neue Regelung. Das geht einfach nicht!»
Hinter jeder Forderung ist ein Bedürfnis verborgen
Die Coachin erkundet sich: «Welches Bedürfnis würde sich bei Ihnen erfüllen, wenn der Mitarbeitende ihrem Wunsch nachkäme?» Reto: «Effizienz», Reto seufzt, «er soll es doch bitte einfach ausprobieren, das ist doch nicht so schwierig!» «Und welches Bedürfnis steht hinter Ihrem Wunsch, er möge es ausprobieren?» fragt die Coachin. Reto überlegt: «Ich wünsche mir, dass die neue Herangehensweise eine Chance bekommt. Die Coachin nimmt den Faden auf: «Ist es das, was Ihnen zu schaffen macht? Der Wunsch, dass Menschen die Bereitschaft haben neue Varianten auszuprobieren?» «Ja genau!», nickt Reto zustimmend.
Verständnis für uns selbst erhöht das Verständnis für andere
Reto überlegt: «Bei der neuen Regelung hat man fast keinen Kontakt mehr mit den Kollegen. Ich kann mir vorstellen, dass der Widerstand daher rührt. Dieses Bedürfnis erfüllt sich tatsächlich nicht mehr.» Die Coachin will wissen: «Ändert diese Einsicht etwas in Bezug auf ihre Forderung?» «Ja, ich war vorher nur mit mir beschäftigt, und so wurde meine Bitte zur Forderung. Jetzt kann ich die andere Seite sehen und vermute, dass es zentral ist, dieses Bedürfnis abzuholen.» Die Coachin bleibt dran: «Was ändern Sie im nächsten Gespräch?» Reto lächelt «Warum bin ich nicht früher darauf gekommen, zuerst nach den Gründen für den Widerstand zu suchen?! Ich glaube, das erhöht meine Chance, ebenfalls Gehör zu finden.» Die Coachin fasst zusammen: «Sie wollen also zuerst den Mitarbeiter verstehen, bevor sie Ihre Sichtweise einbringen?» Reto: «Ja.» Die Coachin weiter: «Wie lautet denn nun Ihre Bitte?» Reto: «Bitte sag mir, was dich daran hindert, die Regelung zu befolgen? Dann bitte ich ihn, das neue Vorgehen auszuprobieren, damit es eine Chance bekommt.» Reto scheint sichtlich erleichtert und schliesst mit dem Satz: «So bleibe ich auch offen, seine Erfahrungen abzuholen.»
Susanne Ledergerber
Bildquelle: Canva